Von Inverness gelangte ich per Anhalter nach Dores, bestehend aus einer Handvoll Häuser am oberen Ende des Ness. Dort folgt die Nebenstraße der linken Seite des Sees, der bis zu einer Meile breit und über 300m tief ist. Hin und wieder geben die Bäume den Blick auf das Ufer frei, gegen das die aufgewühlten Wellen schlagen.
Aus einer Wanderung wurde ein Gewaltmarsch, der nur durch prasselnden Frühlingsregen und meinen zumeist vergeblichen Versuchen unterbrochen wurde, irgendwo ein trockenes Plätzchen zu ergattern. Zumindest verschafften diese Zwangspausen meinen Füßen etwas Erholung, noch bevor sie sich ganz von mir lossagen konnten. Den Versuch zu trampen, hatte ich schließlich nach einer Stunde aufgegeben, nachdem keines der wenigen Fahrzeuge anhielt, um einen durchnäßten Wanderer ein Stück des Weges zu transportieren.
Das Gefühl, wie auf Eiern zu gehen, gestaltete sich mit jedem Schritt mehr und mehr zur Qual. Spätestens jetzt wurde mir klar, daß meine Füße ein Fall für den Orthopäden waren. Gerade noch rechtzeitig erschien hinter der nächsten Kurve etwas, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war wieder einer dieser Orte, deren Atmosphäre einen ganz besonderen Reiz ausübten – ein Friedhof!
Boleskine Graveyard prangte auf einem Schild am rostigen Tor, das überraschend leichtgängig zum Besuch einlud. Ein Schaukasten am Eingang, dessen Inhalt von Schülern recherchiert wurde, erzählte von der Geschichte des Ortes. Er berichtete vom ältesten Grabstein, Aufstand, Kerkerhaft und Hinrichtung der Jakobiten; Jahreszahlen und Ereignisse akribisch und lückenlos zusammengetragen.
Große Grabdenkmale, die diesen Namen auch wirklich verdienen, reihen sich lückenlos aneinander. Licht streicht über ausgewaschene oder moosbewachsene Schriftzüge, die vom Schicksal des Clans der Fraser künden. Nicht wenige haben ihr Leben im Tower von London ausgehaucht, wurden enthauptet oder vergessen. Jahrhunderte alte Schußwunden in einem Grabstein, verweisen auf Begebenheiten, die man weder am Ort noch am Gegenstand für möglich halten würde.
Je länger ich mich dort aufhielt, desto stärker wurde die Versuchung, meine Wanderung für heute abzubrechen. Die Holztür eines anderthalbgeschossigen Gerätehäuschens (vielleicht hatte die Hütte auch eine andere Bestimmung) war einladend unverschlossen und mein Entschluß schnell gefaßt. Den Rucksack in die Ecke und etwas zu Essen beschaffen! In Foyers an der nächsten Tankstelle erhielt ich Milch und Joghurt. Die Frage nach meinem momentanen Zeltplatz beantwortete ich eher ausweichend; ich hatte wohl doch Skrupel mitzuteilen, daß ich beabsichtigte, auf dem Friedhof zu nächtigen.
Zu meiner großen Freude entdeckte ich auf der zweiten Ebene des Häuschens einen alten, steinernen Kamin, der nur darauf wartete, wieder `mal rauchen zu dürfen. Mit einem Reisigbesen kehrte ich die Dielenbretter, auf denen ich meinen Schlafsack ausrollte. Dabei entdeckte ich auf dem Sturzstein über dem verwitterten Holzfenster einige eingeritzte Jahreszahlen und Mitteilungen der Art: ’’Ich war hier’’. Bin ich also doch nicht der erste gewesen, dem dieser Platz unwiderstehlich erschien!
Nach den obligatorischen Spaghetti begann ich Holz zu sammeln. Schnell hatte ich einen beachtlichen Haufen trockenes Feuerholz am Kamin aufgestapelt. Nun konnte die Nacht kommen! Erst zögerlich, dann gieriger leckten die Flammen nach Nahrung, trieben die letzte Feuchtigkeit in weißen Rauchschwaden aus dem Holz. Der Anblick war gespenstisch: Zwischen all den drohenden Grabsteinen ragte im Hintergrund die dunkle Silhouette der Hütte, aus deren Schornstein die Funken stoben, und rotes Licht hinter dem Fenster flackerte.
Im Schein des Feuers ein gutes Buch lesen, während der letzte Whisky die Kehle herabrinnt! Was kann es Schöneres geben?
Am nächsten Morgen war der Stein noch warm, und nur ein kleines Häufchen grauer Asche war von dem ganzen Holz geblieben. Ich hatte geschlafen wie ein Toter und erinnerte mich nur an den gelegentlichen Ruf eines Kauzes. Falls unruhige Geister an meinem Schlafsack zerrten, habe ich davon nichts bemerkt.
© artaes, Markus Gruner